Zwangsverheiratung: Die Geschichte von Hatün Sürücü

Am 07. Februar 2020 jährte sich der 15. Todestag von Hatun Sürücü. Eine Frau, die ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben führen wollte und dafür sterben musste.
Die in Berlin geborene Hatun Sürücü wurde im Alter von 16 Jahren mit einem Vetter in der Türkei zwangsverheiratet, im selben Jahr wurde sie schwanger. Nachdem sie ihren Ehemann verlassen hatte, kehrte sie nach Berlin zu ihrer Familie zurück. Dort brachte sie ihren Sohn Can zur Welt. Daraufhin zog die junge Mutter aus der Wohnung ihrer Familie aus, legte ihr Kopftuch ab und zog in ein Wohnheim für Minderjährige. Sie holte ihren Hauptschulabschluss nach, bezog eine eigene Wohnung und begann eine Ausbildung.
Aufgrund der Trennung von ihrem Ehemann und der Entscheidung, ihre Familie zu verlassen, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen, musste sie sterben. Die Familie sah sich in ihrer Ehre verletzt. Um diese wiederherzustellen, beschloss sie, Hatun umzubringen. Am 07. Februar 2005 wurde sie vor ihrer Wohnung an einer Bushaltestelle von ihrem Bruder mit drei Kopfschüssen ermordet.
Hatun Sürücü wurde zum Opfer patriarchaler Strukturen und musste aufgrund einer angeblichen „Ehr“-verletzung sterben. Sie steht seitdem symbolisch für Opfer von „Ehren“-Morden und „Ehren“-Mordversuchen.  

Gewalt im Namen der Ehre hat viele Gesichter. Diese Form der Gewalt kann bei psychischem Druck beginnen und reicht von emotionaler Erpressung über körperliche und sexualisierte Gewalt bis hin zur Zwangsverheiratung oder Ehrenmorden. Zwangsverheiratung und Zwangsehen stellen ebenfalls eine Form von Menschenhandel dar. lightup möchte mit diesem Blog-Beitrag auch für diese Thematik ein Bewusstsein schaffen und eine kritische Auseinandersetzung fördern.

Nach wie vor gibt es keine repräsentativen Zahlen und keine fundierte, bundesweite Bestandsaufnahme über die aktuelle Sachlage von unter Zwang geschlossenen Ehen bzw. von vor Zwangsverheiratung bedrohter Mädchen und jungen Frauen.
Die polizeiliche Kriminalstatistik aus dem Jahr 2019 erfasste 74 Fälle von Zwangsverheiratung, worunter alle zur Anzeige gebrachten Fälle fallen. Betroffene von versuchter oder vollzogener Zwangsverheiratung sind ganz überwiegend Frauen im Alter zwischen 14 und 21 Jahren. Diese Zahlen stellen nur einen Einblick auf der Grundlage von offiziell geführten Zahlen dar. Die Dunkelziffer von Mädchen und Frauen, die von einer Zwangsverheiratung bedroht sind, sich im Prozess einer Zwangsverheiratung befinden oder in einer unter Zwang aufrechterhaltenen Ehe leben, sind um ein Vielfaches höher.   

Der Begriff Zwangsheirat lässt sich am besten als Prozess verstehen, der sich darin zuspitzt, dass Ehen unter (psychischem und/oder physischem Zwang), d.h. gegen den Willen (mindestens) einer der beiden Brautleute geschlossen werden und möglicherweise auch später unter Zwang aufrechterhalten werden (müssen). Eine Zwangsverheiratung bezieht sich demnach auf den erzwungenen Prozess der Eheschließung und eine Zwangsehe auf die Aufrechterhaltung der Ehe gegen den Willen der Braut und/oder des Bräutigams, wenn die beabsichtigte Trennung oder Scheidung der Ehepartner, sei es von den Ehepartnern selbst oder deren Familien, nicht anerkannt wird. Im Fall der Trennung kann es zu einer Androhung von Maßnahmen gegen das Leben der betroffenen Person kommen oder physische Gewalt angewandt werden. Eine Zwangsverheiratung wird nicht immer standesamtlich durchgeführt, sondern, und dies vor allem bei Minderjährigen, im Rahmen von Imam-Eheschließungen.
Eine Definition, die sich lediglich auf den Zeitpunkt der Verheiratung beschränkt, ist zu eng, um die Komplexität von Zwangsverheiratungsprozessen zu erfassen.  

Von einer Zwangsverheiratung ist die sogenannte arrangierte Ehe abzugrenzen. Unter einer arrangierten Ehe versteht man eine Eheschließung, die zwar von Verwandten, Bekannten oder von Ehevermittlern bzw. -vermittlerinnen initiiert, aber im vollen Einverständnis der Eheleute geschlossen wird. Die Abgrenzung zwischen einer arrangierten Ehe und einer Zwangsverheiratung stellt in der Theorie kein Problem dar, da hierbei der Fokus darauf liegt, ob die Betroffenen der Eheschließung zugestimmt haben oder diese aus Zwang eingehen mussten. In der Praxis gestaltet sich die Abgrenzung jedoch deutlich schwieriger, da die Frage nach der Freiwilligkeit und der Selbstbestimmtheit der Willenserklärung, die auf die Eingehung der Ehe gerichtet ist, nicht eindeutig beantwortet werden kann, da die Übergänge fließend sein können. Weiterhin ist zu beachten, dass jeder Zwangsverheiratung ein Arrangement der Eltern oder anderer Familienmitglieder vorangeht. So kann unter Umständen eine beabsichtigte arrangierte Eheschließung auch zu einer Zwangsheirat werden. 

Es gibt Fälle, in denen sowohl eine Zwangsverheiratung als auch eine Zwangsehe vorliegen. Unter Umständen kann auch aus einer selbst organisierten oder arrangierten Heirat eine Zwangsehe werden, wenn beispielswiese der Wunsch eines Ehepartners, sich zu trennen, abgelehnt wird.  

Der eigentliche Konflikt entsteht nicht einfach dadurch, dass das Kind einen potenziellen Heiratskandidaten ablehnt, sondern beginnt erst dann, wenn die Familienmitglieder diese Weigerung nicht akzeptieren, da sie dadurch einen Gesichtsverlust befürchten. Eine Lösung wird erst dann wahrscheinlich, wenn die Entkopplung zwischen der Verheiratung und der Bedrohung der Familienehre im Falle einer Weigerung gelingt.  

Die Motive, die einer Zwangsverheiratung zugrunde liegen, sind sehr vielfältig. Die Gründe, die das Vorkommen von Zwangsverheiratung erklären, dürfen nicht in vereinfachter Form auf einzelne Dimensionen reduziert werden, sondern müssen in ihrer Komplexität betrachtet werden. Als Beispiele können die Wahrnehmung der Eltern genannt werden, einer moralischen Pflicht nachzukommen, indem sie für ihre Kinder eine Ehe arrangieren, die Gefährdung der Ehre als Grund für die frühe Verheiratung der Tochter, die soziale Lebenssituation der Eltern, wirtschaftliche Erwägungen oder Disziplinierungsmaßnahmen. 

Religiöse Vorschriften des Islam rechtfertigen in keiner Weise eine Zwangsverheiratung. Somit kann der Islam, als Religion, nicht als monokausale Ursache für Zwangsverheiratung gesehen werden. Vielmehr ist es die patriarchalisch geprägte Gesellschaft, die den Islam in seiner Gänze zu Gunsten des männlichen Geschlechts interpretiert. Teile der Gesellschaft, die das patriarchalische Gedankengut verteidigen und propagieren, ziehen den Islam als Rechtfertigung für Zwangsverheiratung heran, wodurch oft ein verzerrtes Bild entsteht. Zwangsverheiratung lasse sich vor allem auf patriarchalische Traditionen und autoritäre Familienstrukturen zurückführen.  

Man unterscheidet verschiedene Arten von Zwangsverheiratung: 

  • „Importbräute“/“Importbräutigame“

    Heiratet ein in Deutschland lebender Migrant/lebende Migrantin eine junge Frau/einen jungen Mann aus seinem Herkunftsland, um künftig in der Bundesrepublik zu leben, wird diese/-r als Importbraut/Importbräutigam bezeichnet.

  •  „Ferienverheiratung“

    Im Falle einer Ferienverheiratung wird die in Deutschland lebende Tochter/der in Deutschland lebende Sohn während eines Aufenthalts in ihrem/seinem Herkunftsland oder dem der Eltern verlobt und anschließend verheiratet, wobei vor Antritt der Reise nicht darüber informiert wurde. Entweder kommt sie/er zusammen mit ihrem Ehemann/seiner Ehefrau nach Deutschland zurück oder wird gezwungen, mit ihm/ihr im Ausland weiterzuleben. Im letzteren Fall spricht man auch von einer Heiratsverschleppung. Der Tochter/dem Sohn wird häufig der Pass weggenommen, um eine erneute Einreise nach Deutschland zu verhindern.

  •   „Verheiratung für ein Einwanderungsticket“

    Eine in Deutschland lebende Frau/ein in Deutschland lebender Mann, die/der einen sicheren Aufenthaltsstatus besitzt, wird von der eigenen Familie mit einem Mann/einer Frau aus dem Heimatland bzw. dem Heimatdorf der Eltern verheiratet, um diesem/dieser zur legalen Einwanderung nach Deutschland, im Rahmen des Ehegattennachzuges, zu verhelfen.

  •  „Verheiratung unter in Deutschland lebenden Zuwanderern“

    Zwangsverheiratung findet auch unter in Deutschland lebenden Ehepartnern, zumeist innerhalb derselben, durch einen gemeinsamen Migrationshintergrund geprägten Gemeinschaft, statt.

Diese vier möglichen Konstellationen, die sich bedingt durch das Leben in Deutschland herauskristallisiert haben, sind nur von außen wahrnehmbare Fallgruppen. Sie stellen somit keine abschließende Einteilung der Arten von Zwangsheiraten dar, da die Motivlage zu vielschichtig ist. Deshalb ist immer der Einzelfall zu prüfen und die weiteren Hintergründe und Motive zu ergründen, die zu einer Zwangsverheiratung führen können.  

Zwangsverheiratung und Zwangsehen bedeuten in den meisten Fällen eine jahrelange sexuelle Ausbeutung, in der es sehr häufig zu Vergewaltigungen in der Ehe kommt.  

Wenn Betroffene sich gegen eine Zwangsverheiratung wehren oder aus einer Zwangsverheiratung lösen, müssen sie mit erheblichen Bedrohungen rechnen. Im schlimmsten Fall kann dies in einem Ehrenmord enden. Das Scheitern einer Ehe wird in patriarchalen Familien oft allein der Frau angelastet. Hat ein Mädchen oder eine Frau durch ihr Verhalten „Schande“ über die Familie gebracht, wird diese alles dafür tun, um ihre Ehre wiederherzustellen. In einigen Fällen sehen sie die einzige Möglichkeit dafür in der Ermordung der für den Ehrverlust verantwortlichen Person.  

Zwangsverheiratung stellt eine schwere Verletzung der Menschenrechte und der Menschenwürde dar und wird in verschiedenen internationalen Rechtsinstrumenten verboten.
Um zu verhindern, dass Mädchen und junge Frauen gegen ihren Willen verheiratet werden, kommt der Präventionsarbeit eine große Bedeutung zu.

 

Geschrieben von Martina

  

Unser Filmtipp:

Der Film „Die Fremde“ zeigt den Kampf einer jungen türkischstämmigen deutschen Frau, die sich aus einer unglücklichen Ehe befreit und gegen den Willen ihrer Familie um ein selbstbestimmtes Leben zusammen mit ihrem Sohn kämpft. Dabei wird der im Raum stehende Konflikt von allen Seiten beleuchtet, der schließlich in einem Ehrenmord endet.


Quellen Text:

 

Alfes, F./Balikci, A./Nöthen, S./Zwania-Rößler, I. (2010): Handreichung Zwangsverheiratung. Freiburg im Breisgau: Lambertus.

Beikler, S. (2007): Sürücü-Mord kommt wieder vor Gericht. Zugriff am 13.10.2020 unter https://www.tagesspiegel.de/berlin/polizei-justiz/berliner-justiz-sueruecue-mord-kommt-wieder-vor-gericht/1017588.html.

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2009): Zwangsverheiratung bekämpfen – Betroffene wirksam schützen. Eine Handreichung für die Kinder- und Jugendhilfe. 2. Auflage. Niestetal: Silberdruck oHG.

Eisenrieder, C. (2006): Zwangsheirat bei MigrantInnen. Verwandtschaftliche und gesellschaftspolitische Hintergründe. In: Terre des Femmes (Hg.): Zwangsheirat. Lebenslänglich für die Ehre. [aktual. und erw. Fassung]. Tübingen: TERRE DES FEMMES.

Riaῇo, Y./Dahinden, J. (2010): Zwangsheirat. Hintergründe, Maßnahmen, lokale und transnationale Dynamiken. Zürich: Seismo.

Strobl, R. /Lobermeier, O. (2007): Zwangsverheiratung: Risikofaktoren und Ansatzpunkte zur Intervention. In: Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.): Zwangsverheiratung in Deutschland. 1. Aufl. Baden-Baden: Nomos.

SütÇü, F. (2008): Zwangsheirat und Zwangsehe. Falllagen, rechtliche Beurteilung und Prävention. Frankfurt, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, NY, Oxford, Wien: Lang.

TERRE DES FEMMES (2020): 74 Fälle von Zwangsverheiratung in der Polizeilichen Kriminalstatistik 2019. Zugriff am 13.10.2020 unter https://www.frauenrechte.de/unsere-arbeit/themen/gewalt-im-namen-der-ehre/aktuelles/4294-74-faelle-von-zwangsverheiratung-in-der-polizeilichen-kriminalstatistik-2019.

TERRE DES FEMMES (2006): Der Hintergrund zum Mord an Hatun Aynur Sürücü im Jahr 2005. Zugriff am 13.10.2020 unter https://www.frauenrechte.de/index.php/themen/gewalt-im-namen-der-ehre/aktuelles/671-der-hintergrund-zum-mord-an-hatun-aynur-sueruecue-im-jahr-2005-,html.

TERRE DES FEMMES (2020): Gedenken an Hatun Sürücü anlässlich des 15. Todestages am 07.02.2020. Zugriff am 13.10.2020 unter https://www.frauenrechte.de/unsere-arbeit/themen/gewalt-im-namen-der-ehre/aktuelles/4230-gedenken-an-hatun-sueruecue-anlaesslich-des-15-todestages-am-07-02-2020.

TERRE DES FEMMES (o.J.): Gewalt im Namen der Ehre und Zwangsverheiratung. Zugriff am 13.10.2020 unter https://www.frauenrechte.de/unsere-arbeit/themen/gewalt-im-namen-der-ehre.